Umgang mit "alten Gewohnheiten"

Wie leicht lassen wir uns doch von alten Gewohnheiten und eingefahrenen Verhaltensmustern beherrschen! Obwohl sie uns … nichts als Leiden bringen, akzeptieren wir sie mit beinahe fatalistischer Resignation, weil wir so sehr daran gewöhnt sind, ihnen nachzugeben. Wir idealisieren die Freiheit, aber unseren Gewohnheiten sind wir sklavisch ergeben.
Dennoch kann uns Reflexion langsam zur Weisheit bringen. Wir können lernen zu erkennen, wie wir immer wieder in feste, sich wiederholende Verhaltensmuster verfallen, und wir können beginnen, uns nach einem Ausweg zu sehnen. Natürlich kann es passieren, daß wir wieder und wieder in unsere Gewohnheiten zurückfallen, aber wir können uns auch langsam von ihnen lösen und uns ändern. Das folgende Gedicht geht uns alle an. Sein Titel lautet “Autobiographie in fünf Kapiteln”.

1.
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.
2.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.
3.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.
4.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.
5.
Ich gehe eine andere Straße.

(Rinpoche Sogyal: Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Scherz-Verlag, Bern, S. 50-51)

 

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