Hans Küng: Ziele - Sinn - Aufgabe des Lebens

“Wozu sind wir auf Erden?” Die Antwort auf diese bekannte erste Katechismusfrage lautet nach dem weit verbreiteten Standardkatechismus von Joseph Deharbe S. J. (1847) bis weit in unser Jahrhundert hinein: “Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch (einst) in den Himmel zu kommen.” Gilt diese Antwort noch heute?

Auch in den Katechismen anderer Kirchen kehrt diese Frage wieder, wenngleich meist an anderer Stelle, in anderer Form und mit anderer Antwort. Im Genfer Katechismus des Calvin von 1542 etwa heißt es: “Quelle est la principale fin de la vie humaine?” (“Welches ist das Hauptziel des menschlichen Lebens?”) – Antwort: “C'est de cognoistre Dieu” (“Gott zu erkennen”). Auch hier – gilt diese Antwort noch heute?

Angezielt ist ja mit dieser Problemstellung die Frage nach dem Sinn des Lebens, die entschieden von jedem Christen, ja, von jedem Menschen eine Antwort verlangt. Freilich, ob katholisch “den Willen Gottes zu tun und dadurch in den Himmel zu kommen” oder calvinisch “Gott zu erkennen” und so Gott zu verherrlichen: die meisten Antworten auf diese grundlegende Katechismusfrage scheinen zu eng, um heute noch überzeugen zu können. Gewiß: die alten Formeln sollten nicht einfach zum alten Eisen geworfen werden; sie können aber auch nicht simpel stereotyp wiederholt werden.

Kritisch überprüft dürften sich die alten Antworten kaum als schlechthin unsinnig, indessen auch nicht als überzeitlich-wahr herausstellen, wohl aber als vielfältig historisch-gesellschaftlich bedingt. Solche Antworten des Glaubens sind immer wieder neu zu suchen und zu formulieren, wobei es nicht auf die Konstanz der Begrifflichkeit, sondern auf die Konstanz der großen Intentionen und entscheidenden Inhalte ankommt.

Wir kommen also heute nicht darum herum, die Formel “Gott dienen und einst in den Himmel kommen” von anderen Perspektiven her zu konterkarieren, aufzulösen und neu zusammenzusetzen. Und es ist heute unbestreitbar, daß der Sinn des Christseins nicht nur Gott und das Göttliche ist, sondern auch der Mensch selber, das Humanum allumfassend. Nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde, irdisches Glück. Nicht nur das “Gott erkennen”, “Gott lieben”, “Gott dienen”, sondern auch Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung, Humanisierung. Wäre von daher nicht deutlicher als bisher zu bedenken, was für das letzte Ziel des Menschen das Vorläufige bedeutet: die tägliche Arbeit, das Eingefügtsein ins menschliche Kollektiv und das Verflochtensein in gesellschaftliche Verhältnisse, die notwendige Aufhebung der Entfremdung und die echte Emanzipation?

(Quelle: Hans Küng, Ewiges Leben?, Piper-Verlag, München, S. 224-225)

 

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